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(Re-)Lektüre II| Robert Menasse: Die Hauptstadt

Robert Menasse lässt im Prolog seines Romans Die Hauptstadt ein Schwein durch Brüssel laufen. Ganz kurz, für flüchtige Augenblicke, treten Befindlichkeiten in den Hintergrund, werden Alltagsroutinen unterbrochen. Es ist ein allgemeines Verdutzen, welches das Schwein auf seiner Route bei den Passanten und Zufallszeugen verursacht. In Sainte-Catherine werden ein paar der Hauptfiguren des Romans zu Zeugen dieser aussergewöhnlichen Begebenheit. Sogar der Auftragsmörder zeigt sich – nach vollbrachter Arbeit – kurzzeitig irritiert: Mit einem frei herumlaufenden Schwein im städtischen Raum hat selbst er nicht gerechnet. Das Schwein geistert bis zum Schluss durch die Romanhandlung. Mal taucht es leibhaftig auf, mal als Phantom (und Medienstar).

„Schwein“ bedeutet innerhalb der Europäischen Kommission, wo es als „Querschnittmaterie“ be- respektive gehandelt wird, Kompetenzstreitigkeiten. Am Beispiel des Schweins präsentiert Menasse ein groteskes Stück des – gewöhnlichen? – bürokratischen Betriebs, in welchem fortwirkende nationale und supranationale Interessen einander in die Quere kommen und ein gemeinsames Fortkommen verunmöglichen. Der Präsident der „European Pig Producers“ bittet seinen Bruder um Einflussnahme, doch sitzt und arbeitet dieser an marktwirtschaftlich irrelevanter, machtloser Position – im Ressort Kultur.

Bei aller Komik, die aus Menasses Beschreibung des kafkaesken bürokratischen Betriebes und dessen Akteuren resultieren, geht es aber auch ernst zu und her in diesem europäischen Gegenwartsroman, dessen Handlung kurz nach der Bombendetonation in der Metro-Station Maelbeek aussetzt.

Um das krisenbedingt ramponierte Image der europäischen Kommission aufzupolieren wird ein „Big Jubilee Project“ lanciert. Besinnungslosigkeit und Geschichtsvergessenheit treten zu Tage – die Geschichte der Europäischen Kommission wird intern recherchiert, die „Pragmatiker“ beginnen zu googeln. ‚Visibilité’ – sichtbar sein, immer wieder auffallen und ‚Mobilité’ beweisen, sind Anforderungen für eine Karriere in der Europäischen Kommission, so glaubt es Fenia Xenopoulou zu wissen, die „Leiterin der Direktion C (»Kommunikation«) in der Generaldirektion für Kultur“, die in dieser Position ihre Karriere als geknickt bezeichnet und sich des Projekts annimmt. Bei der Kultur landet das Projekt allerdings nur, weil die budgetstärkeren Generaldirektionen desinteressiert sind – sich mit Erträglicherem/Ertragreicherem (u. A.: Schweinen) beschäftigen.

Ganz kurz nur flackert ein einem Gründervater zugeschriebener Satz auf:

„Wenn ich noch einmal anfangen könnte, dann würde ich mit der Kultur beginnen.“

(Jean Monnet)

Zum Ideengeber wird Martin Susman, der auf Erinnerungskultur setzt und mit dem Schrecken beginnen will. Es beginnt die Suche nach Auschwitz-Überlebenden, EUROSTAT stellt Statistiken auf. David de Vriend, der „ideale Zeitzeuge“, wäre nahe, doch wie es in einer anderen Figurenkonstellation heisst:

„Aber welche Bedeutungen haben schon Zusammenhänge, Verflechtungen und Vernetzungen, wenn die Betreffenden nichts davon wissen? “

Strippenzieher verhindern das Gedeihen des Projekts. Nationale Interessenvertreter werden mobilisiert, bürokratische Mechanismen in Gang gesetzt, das „Nie wieder!“ – die historische Lektion von Auschwitz – wird als unangemessen für die Politur des „Corporate Image“ der supranationalen Kommission erachtet.

Derweil hält andernorts in Brüssel, in einer Think-Tank-Tagung, in welcher ein „New Pact for Europe“ ausgearbeitet werden soll, ein emeritierter Professor in der Rolle eines traurigen Revolutionärs seine mahnende Abschiedsrede, in welcher er seine humanistische Vorstellung eines postnationalen demokratischen Europas präsentiert: „last words“ – lost words?–

„Patientendialog“: Über die Milz.

Es geht polyglott zu und her, das heisst auch, dass sich Menasse da und dort, etwa in Gesprächssituationen der Beamten, wo ein vielfältig gefärbtes Englisch gesprochen wird, eine „Comitology-Language“ sich formt, die auf alle beteiligten Sprachen abfärbt, als Übersetzter betätigt. Die Sprachkonfusion in diesem Neubabylon führt zu Verständigungsbarrieren. So bleiben denn auch einige (zufällige) Begegnungen der Protagonisten, die sich wichtiges zu erzählen hätten, auf der kommunikativen Oberfläche stecken:

„Das Problem mit Fremdsprachen […] wenn man sie nicht zumindest stiefmuttersprachlich beherrschte, war, dass man immer nur sagt, was man sagen kann, und nicht, was man sagen will. Die Differenz ist das Niemandsland zwischen den Grenzen der Welt.“

Traurigerweise gilt aber auch:

„Die Lebenden und die Überlebenden sprachen nur zufällig dieselbe Sprache, produzierten ein ewiges Missverständnis, indem sie dieselben Begriffe verwendeten.“

 

Dank der Internationalität des Romanpersonals werden biographische und familiäre Vorgeschichten eingewoben, die in den meisten Fällen auch politische Episoden der unfriedlichen Geschichte Europas vergegenwärtigen. Geschichten von Widerstandskämpfern und Kollaborateuren, Partisanen und Opportunisten, Idealisten und Pragmatikern werden gestreift. Erinnerungen führen nach Auschwitz, in das Wien des 2. Weltkriegs und der Nachkriegszeit, nach Prag oder nach Zypern ans ausgetrocknete Bad der Aphrodite.

Menasse gelingt ein Blick hinter die grauen Fassaden der EU-Bürokratie. Nicht holzschnittartig, sondern bunt und ambivalent – eben menschlich, werden einzelne Institutionsvertreter portraitiert. Die Hauptstadt ist ein lesenswerter Gegenwartsroman, der einen nachdenklich und melancholisch stimmt. Resignation ist allerdings fehl am Platz. Um mit einer etwas kryptischen Zitatmontage zu schliessen:

|„»Das war alles.« [?] – »NEIN!« – À suivre.“|

(Robert Menasse)

 

Robert Menasse: Die Hauptstadt. Roman. 459 Seiten. Suhrkamp Verlag, 2017. D: 24,00 € A: 24,70 €; CH: sFr. 34.50.- ISBN: 978-3-518-42758-3

 

 

 

n.n.m.s.

Kompost und Komposita.

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