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(Re-)Lektüre | Reto Hänny: Sturz. Das dritte Buch vom Flug.

So lautet der vollständige Titel des bei Matthes & Seitz erschienen Buches des Schriftstellers Reto Hänny. Das erste und das zweite Buch wurden – beide jeweils unter dem Titel Flug – in den Jahren 1984 respektive 2007 publiziert. Es handelt sich bei diesem jüngsten Werk nicht, wie man meinen könnte, um den Abschluss einer Trilogie, sondern vielmehr um eine erneu(er)te textgewordene ‚Übermalung‘ des „Materialkomplex[es] FLUG“ – um ein Cover, eine etwas veränderte Interpretation oder: um einen Remix. Bleibt die ‚Flugroute‘ des Textes – verglichen mit den beiden Vorgängern – ähnlich, so hat Hänny in diese Fassung doch zahlreiche neue Flugschlaufen (etwa den kapitellangen Text Silent Tongues; oder – im Anhang, ausserhalb der ‚Handlung‘ – den an einen polnischen Freund adressierten Briefauszug, der auf Hännys Reiseessay „Am Boden des Kopfes. Verwirrungen eines Mitteleuropäers in Mitteleuropa“ von 1991 rekurriert) und Finten – die Stimmen „fremder Dinten“ – eingewoben. In den „Anmerkungen zum Text“ nennt er dankend zahlreiche Namen, einen polyphonen Chor von Autor_Innen, deren Spuren als Zitate, Pasticci und Paraphrasen in Sturz als intertextuelle Echos mitklingen. Mitunter sieht man sich als Leser denn auch in die Rolle des dechiffrierenden Detektivs (ge-/ver-)setzt.

Die langen eindrücklichen und eindrucksvollen Sätze ufern in partizipierende Details aus, so dass es zuweilen eine Herausforderung ist dem Satzfaden zu folgen, um nicht in den verstrickten Knoten hängen zu bleiben. Das nicht zum Punkt-kommen(-wollen) – die Verzögerung/der Aufschub – darf als besonderes Merkmal von Reto Hännys Schreibweise bezeichnet werden. Meisterhaft demonstriert hat er diese zuletzt in seinem lesenswerten, sich über mehr als hundert Seiten ziehenden ‚Ein-Satz-Ulysses‘ Blooms Schatten, einer imposanten Hommage auf James Joyces Romanmonument. Auch dieses Buch ist ein Lesegenuss, aber alles andere als ein „Reader’s digest“.
Der Text Sturz setzt in der Gegenwart am „Unort“ des Zürchers Flughafens ein. Schildert detailreich beobachtend eines dessen Terminals und wie sich dort die zufällige temporäre Passagiergemeinschaft eines Kleinflugzeugs einfindet und nach absolviertem Check-In-Prozedere auf den Abflug wartet. In der Gegenwart wartend wird die (Re-)Präsenz dieses Unorts detailreich sichtbar gemacht. Der Unort ist sozusagen Ausgangspunkt für den Sturz in die Geschichte(n). Beginnend mit derjenigen der Aviatik: Denn dieser Ort – damals noch mehr Moorlandschaft als kommerzieller Unort – ist es, wo einst der Flugpionier Louis Blériot im Rahmen einer spektakulären Flugshow weilte.

Was folgt, ist ein erneu(er)ter (Rück-)Flug durch die eigene Biographie: Zurück ins Bergdorf, wo der Erzähler als Bub in der Stube der Grosseltern um den Tisch kreisend einen Flug vollzieht. Wo neben den Geschichten der Grosseltern Photographien und die Postkarten der Auswanderin Tante Berta aus New York Anlass für phantastische Flüge – aus der dörflichen Enge hinaus, in die weite Welt – sind.
Wollte man den Text Sturz schubladisieren, könnte man ihn (nicht ganz verfehlt) als Entwicklungs- respektive Bildungsroman etikettieren. Denn die Handlung greift auch die
Jugendjahre auf, die der Erzähler in der Stadt Ruch (lies: Chur) verbrachte. Schildert, wie der, bei Schlummermüttern untergebrachte, Bergbub in verschiedene Konflikte mit der städtischen Gesellschaft gerät; lesehungrig durch Mithilfe wohlgesinnter Lehrer den Kulissenrealismus Karl Mays überwindet und so Zugang zur Weltliteratur findet; als Klavierschüler den seichten, omnipräsenten – quasi realitätsstüzenden – Schlager hinter sich lässt und die gehörsheilenden Möglichkeiten des Free-Jazz entdeckt…


Lektüreeindruck Stubenflug: Bettina Spoerri liest – 15: Reto Hänny, Flug

Beinahe am Ende des Buches – in der fortgeschrittenen Gegenwart, in welcher Sturz einsetzt, der Erzähler fliegt als Flugzeugpassagier in der Luft, wird auf sein Gepäck verwiesen: ein Koffer voll Papierkram, Materialien, Postkarten, Notizen, ein halbfertiges Skript eines „kaum je zu realsierenden Films“, der Ballast (oder die Komponenten) aber, aus welchen der Text Sturz (mit)hervorgegangen ist. Wenn auch die Realisierung des Stoffes als Film eher unwahrscheinlich scheint – ist dieser im Möglichkeitsraum der Literatur doch eindrücklich gelungen.

Sturz ist eine anspruchsvolle Lektüre – keine alltägliche Prosa (–) im besten Sinne: lesenswert.

Reto Hänny: Sturz. 600 Seiten, Gebunden. Matthes & Seitz, 2020.
Preis: 45,30 CHF / 36,00 €
ISBN: 978-3-95757-870-9

n.n.m.s.

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