Das indonesische Duo Senyawa und ihr dezentrales Musikprojekt Alkisah
2021 starteten Senyawa mit ihrem Album Alkisah ein beispielloses Experiment: Sie veröffentlichten den Mastertrack unter einer Creative-Commons-Lizenz (CC BY-NC-SA) und luden unabhängige Labels weltweit ein, das Album gemeinsam zu veröffentlichen. Jedes beteiligte Label erhielt die Freiheit, Format, Cover, Packaging und sogar Remixes nach eigenem Ermessen zu gestalten.
Senyawas Ansatz zielt darauf ab, die hierarchischen Strukturen der Musikindustrie zu dezentralisieren – insbesondere das Distributionssystem. Im Gegensatz zum üblichen Geschäftsmodell, bei dem Künstler ihre Rechte an ein einzelnes Label abtreten, teilt Senyawa die Macht und organisiert die Verbreitung kollektiv. Rully Shabara, Mitglied des Duos, bringt es auf den Punkt:
„Die Lösung, den Teufelskreis zu durchbrechen, ist, die Macht zu teilen, sobald man sie hat.“
Dezentrale Kooperation statt Monopol
Hinter diesem Modell steht eine klare politische Haltung: ein Protest gegen Monopolismus und Plattformkapitalismus. Statt sich auf große Labels oder Streaming-Dienste zu verlassen, setzt Senyawa auf kulturelle Vielfalt und lokale Netzwerke. Die beteiligten Labels sollen
„kleine, verstreute Akteure stärken und vernetzen“.
Jedes Label kann eigene Remixes und Interpretationen beisteuern, wodurch das Album ständig neu erfahrbar wird. Ein Musikjournalist beschreibt das Konzept so:
„Man teilt alle Materialien (Tracks, Stems, Artwork) und überlässt den Labels die Entscheidung, wie sie das Album veröffentlichen.“ Rully Shabara ergänzt: „Das ist Teil des Experiments – mal sehen, was passiert, wenn wir die Kontrolle loslassen.“
Durch die Zusammenarbeit von 44 Labels auf vier Kontinenten entsteht eine dezentrale Distribution, die Fixkosten senkt und Transportwege verkürzt. Rabih Beaini vom Label Morphine bezeichnet das Ergebnis als „ziemlich utopisch“, da es Überfluss und Vielfalt statt künstlicher Verknappung fördert. Ein Beispiel für die kreative Vielfalt: In Jordanien erschien Alkisah als Kassette mit handgefertigter Lederhülle, während eine Berliner Edition eine Kräutermischung (Jamu) beilegte.
Konsequenzen für Künstler:innen, Labels und Hörer:innen
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Für Künstler:innen bedeutet das Teilen der Rechte einen Kontrollverlust, aber auch den Gewinn einer globalen Community. Rully Shabara sieht darin eine politische Utopie: „Wenn Kreative Macht teilen, wird das System weniger hierarchisch.“
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Für Labels wird die Produktion erschwinglicher, da Kosten geteilt werden. Lokale Auflagen vermeiden teure Übersee-Lieferungen.
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Für Hörer:innen entsteht eine größere Auswahl – von digitalen Versionen über Vinyl bis hin zu regionalen Sonderausgaben.
Dieses Modell stellt Musik nicht als Konsumprodukt, sondern als gemeinschaftliches Kulturgut dar – ein Gegenentwurf zu zentralisierten Plattformen wie Spotify.
Die Schweizer Musikszene im Vergleich: Sauber, steril, langweilig?
Im Kontrast zu Senyawas offenem Ansatz wirkt die Schweizer Musikszene oft homogen und risikoarm.
Gründe für die Zurückhaltung
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Förderkultur & Akademisierung – Hochschulen und Institutionen wie Pro Helvetia bevorzugen etablierte Ästhetiken. Experimentelle oder politische Kunst findet wenig Unterstützung.
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Kommerzielle Vorsicht – Radios und Labels setzen auf „brave Durchschnittlichkeit“, um den Massenmarkt nicht zu verprellen. Ein Programmchef erklärt: „Nur harmlose Songs bedienen den Markt.“
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Fehlender politischer Anspruch – Themen wie soziale Ungerechtigkeit oder gar Kritik am Staat werden im Mainstream oft gemieden. Künstler wie Faber, die Grenzen testen, ernten Shitstorms.
Fazit: Braucht die Schweiz mehr Mut zur Vielfalt?
Senyawas Projekt zeigt, wie dezentrale Ansätze künstlerische Freiheit und gesellschaftliche Teilhabe stärken. In der Schweiz hingegen dominiert eine Kultur der Sicherheit – gefördert durch Subventionen und saturierte Strukturen.
Damit die Szene dynamischer wird, braucht es mehr Experimentierfreude und den Mut, Hierarchien infrage zu stellen. Musik sollte nicht nur konsumiert, sondern als lebendiges, gemeinschaftliches Gut verstanden werden – genau das macht Senyawa vor.
Senyawa: Die rohe Energie javanischer Klangwelten live erleben