Charles Tilly, einer der einflussreichsten Historiker und Soziologen des 20. Jahrhunderts, hat mit seinen Analysen der europäischen Geschichte einen neuen Blick auf die Entstehung moderner Staaten ermöglicht. Eine seiner zentralen Thesen besagt, dass der Ursprung von Staaten eng mit militärischer Organisation und Kriegsführung verbunden ist.
Tilly argumentierte, dass frühe Staaten nicht aus abstrakten Konzepten von Verwaltung oder Gesetzgebung entstanden, sondern aus praktischen Notwendigkeiten im Krieg. Im Kern seiner Analyse standen Söldnertruppen und professionelle militärische Einheiten. Diese Truppen zeichneten sich durch ein hohes Maß an Vertrauen und effizienter Zusammenarbeit aus – Strukturen, die weit über das einzelne Gefecht hinausgingen. Innerhalb solcher Gruppen entstanden Mechanismen der Disziplin, der Organisation und der Ressourcennutzung, die später auch auf die Verwaltung ganzer Territorien übertragen werden konnten.
Aus dieser Beobachtung entwickelte Tilly seinen berühmten Grundsatz:
„Wars make states, states make wars.“
Kriege zwangen Herrscher dazu, Ressourcen zu mobilisieren, Steuern zu erheben und administrative Strukturen zu schaffen. Gleichzeitig ermöglichten diese Strukturen die Organisation weiterer Kriege, was zu einem sich selbst verstärkenden Kreislauf führte. Moderne Staaten, so Tilly, sind daher in ihrer Grundstruktur Produkte jahrhundertelanger militärischer und administrativer Anpassungen.
Die These hat weitreichende Implikationen für das Verständnis politischer Macht und staatlicher Organisation. Sie zeigt, dass Staaten nicht als neutrale Verwaltungsapparate entstanden, sondern als Instrumente zur Sicherung und Ausweitung militärischer und territorialer Macht. Daraus folgt auch, dass Effizienz, Vertrauen und organisatorische Kompetenz – ursprünglich innerhalb kleiner Truppen entwickelt – zu zentralen Merkmalen stabiler Staatsapparate wurden.
Tillys Arbeit bietet somit nicht nur einen historischen Einblick, sondern liefert auch einen analytischen Rahmen, um die Verflechtung von Krieg, Macht und staatlicher Struktur in verschiedenen Epochen zu verstehen. Sein Werk bleibt ein zentraler Bezugspunkt für Historiker, Politikwissenschaftler und Soziologen, die die Dynamik von Staatlichkeit und Konflikt erforschen.
Fotoquelle: Theorium (aufgerufen am 20. Oktober 2025)






